LEBEN 18 meditaxa 93 | Mai 2020 Der Krise die Krone aufsetzen Plötzlich spricht Jede und Jeder von „diesen Zeiten“ und meint die durch das Auft reten eines neuartigen Coronavirus bedingten Einschnitte ins öff entliche und private Leben. Alle sind aufgefordert, die virale Verbreitung einzudämmen. Dass es dabei zu neuen Schwierigkeiten des Alltags kommt, ist ver- ständlich, denn grundlegende Bedürfnisse wollen erfüllt sein. Das Augenmerk liegt dabei aber oft nur auf dem Naheliegen- den, dem Hier und Heute, dem Ich und dem direkten Ge- genüber. Aber es braucht auch die Weitsicht, den Blick über den Tellerrand hinaus, das Denken von der Zukunft her, um selbst „diese Zeiten“ gut und vorausschauend zu gestalten. Denn jede Krise ist immer auch eine Chance. Wie steht es um die guten Aussichten? Gesellscha lich gesehen Es fragen Nachbarn, ob sie für Ältere einkaufen sollen, Unter- nehmen spenden für Forschungszwecke oder caritative Ein- richtungen. Egal, ob großer oder kleiner Beitrag, die meisten von uns haben längst gemerkt, dass sich eine neue Freund- lichkeit, Rücksichtnahme und Solidarität etabliert. Durch die fehlende räumliche Nähe rücken Menschen im übertragenen Sinn näher zusammen. Man hat wieder Zeit, nach einander zu fragen. „Wie geht es Dir?“ ist keine Floskel mehr, sondern oft Einleitung zu einem langen Telefonat. Auch halbvergesse- ne Freunde melden sich wieder und ein grüßendes Winken von Fenster gegenüber ist mehr wert als jeder Like bei Face- book. Es geht wieder um die Qualität der Beziehungen, nicht um Quantität. Arbeiten und Leben Nach anfänglichen Schwierigkeiten sind die „Schreibtisch- täter“ jetzt im Homeoffi ce angekommen. Ob Küchentisch oder Wohnzimmer als Büro herhalten müssen und die „Kollegen“ gerade die eigenen Kinder sind, eine neue Flexi- bilität ist notwendig, um Leben und Arbeit gut zu verbinden, aber auch gut zu trennen. Der Wechsel zwischen Berufl ichem und Privatem lässt sich ohne Pendeln schneller vollziehen und es bleibt mehr Zeit, denn ist Bruttoarbeitszeit gleich Nettoarbeitszeit. Auch Arbeitgebern fällt die neue Effi zienz auf, weil dank Selbstorganisation konzentrierter und verant- wortungsbewusster gearbeitet wird. Allen, die nicht im Ge- sundheitswesen oder der Lebensmittelversorgung arbeiten, ist mitunter bange, ob der Job die Krise übersteht. Vielleicht hilft es, sich auf das zu besinnen, was einen wirklich erfüllt. War die Arbeit bislang der alleinige Sinnstift er, ist jetzt die beste Zeit zu lernen, auch andere Bereiche des Lebens wertzuschätzen. Prima Klima Ob wir wollen oder nicht – momentan sparen wir jede Menge Kohlendioxidemissionen ein. Die Luft in den sonst berühmt- berüchtigten Smog-Gegenden ist auf einmal sauber. Für die Umwelt bedeutet unser Rückzug ins Private eine kleine Ent- lastung. Bei all dem könnte man auf die Idee kommen, zu fra- gen, warum wir uns nicht genauso engagiert wie bei der Vi- rusbekämpfung daran machen, das Klima und die Umwelt zu schützen, schließlich hängt unsere Existenz unmittelbar von beidem ab. Wer langfristig denkt, behält den in der Krise er- lernten zurückhaltenden Lebensstil bei, um den eigenen öko- logischen Fußabdruck gering zu halten. Außerdem kann man die überraschend viele freie Zeit nutzen, um aktiv zu werden: Fahrrad statt Auto fahren, ein Insektenhotel bauen, eigenes Obst, Gemüse oder Wildblumen anpfl anzen. Wirtscha lich wirtscha en Natürlich ist das schlanke Just-in-time-Prinzip für große pro- duzierende Unternehmen attraktiv, allerdings nur, wenn die Lieferkette nie reißt. Depots und Vorratslager wirkten vor der Krise so antiquiert wie das Schönheitsideal eines Peter Paul Rubens. So wie der menschliche Körper gerne kleine Pölster- chen für Notzeiten anlegt, sollte es die Wirtschaft handhaben und sie tut es bereits. Die Globalisierung steht auf dem Prüf- stand, es scheint auf einmal nicht mehr absurd, in der eigenen Region produzieren zu lassen, wo Transportwege kurz sind und Know-how verlässlich vorhanden ist. Für Firmen, deren Geschäft smodell vielleicht schon länger überholt ist, ist es an der Zeit, sich verändern, um zu überleben. Die Krise kann also helfen, sich auf das Wesentliche zu besin- nen. Fragen wie „Was wollen wir eigentlich?“ oder „Wie wol- len wir leben?“ stellen die Weichen in die richtige Richtung. Denn eins steht fest: Ideen zeichnen sich jetzt schon ab und wollen umgesetzt werden, damit es nach der Krise nicht ein- fach so weiter geht wie zuvor. Wir sind lernfähig und sollten uns das Neue nicht wieder nehmen lassen. Es gibt in „diesen Zeiten“ viele, die über das Leben, das Wie und Wozu, nach- denken. Die gute Nachricht ist: Sie sind nicht allein. Geben wir der Krise eine Chance und setzen wir ihr durch positive Veränderungen die Krone auf.