Digitalisierung im Gesundheitswesen: Wie groß sind eure Fußabdrücke?!

07.08.2023

Die Digitalisierung wird branchenweit vorangetrieben, sogar per Gesetz wie u. a. im Gesundheitssystem. Offiziell wurde die papierlose Kommunikation bisher als Allheilmittel für eine vorzeigbare Ökobilanz präsentiert – schließlich sparen alle am Papier, Porto, produzieren so weder physischen Müll noch Abgase der Transportwege. Doch was ist mit dem CO2-Fußabdruck der Digitalisierung?
Ein Abdruck, der immer noch als globaler blinder Fleck bezeichnet werden kann. Es ist irreführend, das Internet samt seinen Anwendungen – Suchmaschinen, Websites, Portale, Chats, E-Mails, usw. – als immateriell zu betrachten, denn so entsteht der Eindruck, dass es nicht wirklich existiert. Das Gegenteil ist der Fall: Die Verarbeitung und Speicherung von Bits und Bytes rund um die Uhr erzeugen ein riesiges Datenvolumen, das in größer werdenden Rechenzentren mit entsprechendem Energieaufwand gespeichert und verarbeitet werden muss.

Wir verbrauchen Milliarden und die Währung ist kWh
Laut dem Branchenverband Bitkom* verbrauchten im Jahr 2020 deutsche Rechenzentren allein für den Datenverkehr 16 Milliarden Kilowattstunden – dieser Stromverbrauch ist höher ist als der Berlins im selben Zeitraum. Die Politik strebt bis 2027 klimaneutrale Rechenzentren an. An genauen Kriterien sowie genügend regenerativer Energie fehlt es aber noch. Schätzungen zufolge werden zwischen 2 und 4 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen aktuell durch die Informations- und Kommunikationstechnologiebranche (IKT-Branche) verursacht. Laut einer Studie der Bitkom ist mit einem durchschnittlichen digitalen Bedarfszuwachs von ca. 3,5 bis 5 Prozent pro Jahr zu rechnen. Im Jahr 2030 ergäbe das 23 bis 29 Milliarden Kilowattsunden – den fast doppelten Verbrauch.

Wo ist der Fußabdruck?
Die gematik als Nationale Agentur für Digitale Medizin hinkt bei der Nachhaltigkeit großen Tech-Unternehmen wie Apple und Meta Platforms hinterher – diese setzen für ihre Rechenzentren seit Jahren auf Ökostrom. Als umsetzende Agentur der TI weist die gematik bisher keine Ergebnisse oder Schätzwerte vor: Weder zum Energieverbrauch ihrer Rechenzentren noch zur Herkunft des verwendeten Stroms. Auch gibt es keine Informationen zu möglichen ökologischen Konsequenzen und des gesteigerten Energieverbrauchs durch die flächendeckende Einführung elektronischer Anwendungen im Gesundheitswesen, bspw. durch das eRezept und die elektronische Patientenakte (ePA). Die Deutsche Allianz für Klimawandel und Gesundheit e. V. (KLUG) steht der Vorgehensweise der gematik kritisch gegenüber, es gäbe kaum Informationen bezüglich Nachhaltigkeit und Klimaschutz bei der Umsetzung einer digitalen Infrastruktur im Gesundheitswesen. Der Ressourcenverbrauch werde auch nicht bedacht, so führen bspw. der Konnektorentausch oder die eAU in der aktuellen Form zu einem erhöhten Verbrauch von Energie, Papier und Zeit.

Digitalisierung: DIE Maßnahme zur Klimaneutralität?
Energieeffizienz sollte bei der Umsetzung des E-Health-Gesetzes das Leitmotiv sein, so forderte es der 125. Deutsche Ärztetag und die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Zu den Themen Nachhaltigkeit und Klimawandel wurden die bereits bekannten Maßnahmen gefordert: Abgasreduzierung, Gesunde Ernährung, Patienten für Nachhaltigkeit und Klimaschutz sensibilisieren, usw. Beim 126. Ärztetag zeigte sich die Bundesärztekammer (BÄK) als Vorreiter: Laut dem Geschäftsführer Administration, Marco Neisen, hatte die BÄK-Geschäftsstelle ihren ökologischen Fußabdruck ermitteln lassen: „Im Vergleich zu anderen öffentlichen Einrichtungen stehen wir ganz gut da, aber wir wollen besser werden und planen, aus der Berechnung in die konkrete Maßnahmenplanung einzusteigen,“ so Neisen.
Gemäß den Forderungen des 125. und 126. Deutschen Ärztetages haben Patienten ein Recht auf eine klimafreundliche Verarbeitung und Verbreitung ihrer Daten, da Klimaschutz und Gesundheit nur gemeinsam funktionieren. Bis 2030 will die BÄK klimaneutral werden, dazu ist aber eine klimaneutrale TI notwendig.

Grüne Informationstechnik: ein Trend, der immer gilt und allen steht
Es gibt viele Ansätze, die Digitalisierung so fortschrittlich zu machen, wie sie aktuell verkauft wird:
Das Netzwerk energieeffiziente Rechenzentren (NeRZ) will Deutschland als Standort der energieeffizientesten und sichersten Rechenzentren weltweit etablieren. So soll u. a. die Abwärme von Rechenzentren nachhaltig genutzt werden – zum Heizen von Privat- und Gewerbeimmobilien oder kommunalen Einrichtungen, wie z. B. Schwimmbädern. Dazu braucht es effiziente Server und u. a. auch schlanke und modular programmierte Softwares, die eine lange Nutzungsdauer der Hardware ermöglichen, sowohl im Rechenzentrum sowie in den Unternehmen als auch in den Arztpraxen. Diese Aspekte – energieeffiziente Rechenzentren, effiziente Software und lange Nutzungsdauer der Hardware innerhalb der Kreislaufwirtschaft* sollten die Grundlage der Digitalisierung im Gesundheitswesen bilden.
Die Treibhausgasemissionen der IKT-Branche sind substanziell – vom Abbau der Rohstoffe bis hin zur Entsorgung des Elektroschrotts. Auch die künstliche Intelligenz (KI) trägt ihren Teil bei: Die Potenziale im klinischen Alltag sind zwar groß, doch Lösungen für die erzeugten Datenmengen, allein durch die Trainings der KI, die zunehmende Rechenleistung und die Speicherung immer größerer Datenmengen sowie den gesteigerten Energiebedarf gibt es aktuell nicht. „Ohne aktive politische Gestaltung wird der digitale Wandel den Ressourcen- und Energieverbrauch sowie die Schädigung von Umwelt und Klima weiter beschleunigen“, warnt u. a. der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU): Es müssen Bedingungen geschaffen werden, um die Digitalisierung in den Dienst nachhaltiger Entwicklung zu stellen.

Kleine Fußabdrücke – große Wirkung
Solange Lösungen im großen Stil auf sich warten lassen, kann man viele kleine Schritte in Richtung Klimaschutz und Nachhaltigkeit tun: Ärzte können mit gutem Beispiel vorangehen und den CO2-Ausstoß ihrer Praxen verringern. Zunächst sollte die Hardware dem Bedarf entsprechen. Ist der energieineffiziente 45 Zoll curved Monitor am Arbeitsplatz notwendig? Denn in Relation zu „normal“ großen Bildschirmen ziehen diese um einiges mehr Strom. Die digitale Patientenversorgung am Empfang benötigt keine leistungsstarke Grafikkarte wie z. B. Designer oder Gamer sie verwenden. Eine Bedarfsanalyse durch einen IT-Dienstleister hilft, Energie und damit CO2-Emissionen sowie Kosten zu sparen. Für die EDV-Ausstattung mit „Grüner Hardware“ und -Komponenten gibt es zuverlässige Anbieter. Denn grundsätzlich sollte die Langlebigkeit angestrebt werden, um Ressourcen zu schonen und Elektroschrott zu vermeiden. Die Software-Entwicklung sieht das größtenteils leider anders. Man kann geplante Obsoleszenz* vermuten, wenn z. B. die intakte Hardware aufgrund neu entwickelter Software entsorgt werden muss. Neue Software ist nicht ökologisch, wenn sie auf der alten Hardware oder den Komponenten nicht funktioniert. Ein Paradebeispiel sind Betriebssysteme: die nächste Generation benötigt viel mehr Prozessorleistung sowie Arbeitsspeicher- und Festplattenkapazität. Im Endeffekt muss ein neuer PC angeschafft werden, um die Arbeit fortzuführen. Softwareentwickler bedenken nicht, dass die Vielzahl neuer Funktionen nur von einer Minderheit genutzt wird. Abwärtskompatible Softwares mit auswählbaren Modulen, die beim Kauf oder nachträglich hinzugebucht werden können, wären revolutionär. Beispielhaftes für nachhaltige Softwareentwicklung gibt es in der Webentwicklung aktuell von einem deutschen Hersteller, der auf Abwärtskompatibilität aller CMS*-Versionen, schlanker Datenverarbeitung in Back- und Frontend und modularer Erweiterungen für Entwickler und Endanwender setzt. Mit dem Umweltsiegel „Blauer Engel“ ausgezeichnet gibt es nur die Open-Source* Dokumentenbetrachter „Okular“. Wer sich hiervon inspirieren lässt, legt den Grundstein für eine nachhaltige Digitalisierung.

Den CO2-Fußabdruck klein halten, einige Tipps

  • Ökostrom nutzen – auch Provider und Mailanbieter können nachhaltig sein, z. B. Biohost (Naturstrom) oder Posteo (Greenpeace Energy)
  • Datenmüll adieu: Mails, Spam, Papierkorb organisieren und leeren sowie unnötige Newsletter abbestellen
  • Niedrige Auflösungen bei Streaming und Videokonferenzen nutzen
  • Externen Festplatten- statt Cloudspeicher nutzen – hier tendiert man eher dazu, nur wirklich Notwendiges zu speichern.
  • Grüne Netzinteraktion: Ecosia.org als Suchmaschine wählen, die mit den Einnahmen aus Suchanzeigen Bäume gepflanzt, (s. meditaxa 87/2018), Adblocker verwenden und auf sparsame Browser setzen, wie Seamonkey, Vivaldi oder UR Browser
  • Hardware-Einstellungen prüfen: Bildschirmschoner deaktivieren, Stand-by und Helligkeit anpassen
  • Unnötige Stromversorgung unterbrechen: Unbenutzte Ladekabel, Kippschalter bei Mehrfachsteckdosen verwenden, um Endgeräte nach Feierabend ganz vom Strom zu nehmen, wenn die Stromversorgung nicht zwingend notwendig ist
  • Elektroschrott reduzieren – Hardware anschaffen, die auch in einzelnen Komponenten reparier- und aufrüstbar ist
  • „Grüne Hardware“ beziehen: Secondhand-EDV, nachhaltige Smartphones oder faires Zubehör
  • Abwägen: Wann ist der Einsatz von Papier umweltschonender und effizienter? Papier ist mit der richtigen Entsorgung ein stetiger Teil der Kreislaufwirtschaft. Und: der Trend in den Arztpraxen geht zurück zum Papier – denn so hat man wichtige Informationen zur Hand und nicht im Spamordner.

Buchtipps:

  • Christian Sarkar, Philip Kotler, Enrico Foglia | Regeneration: The Future of Community in a Permacrisis World
  • Jeremy Rifkin | Der globale Green New Deal: Warum die fossil befeuerte Zivilisation um 2028 kollabiert
    – und ein kühner ökonomischer Plan das Leben auf der Erde retten kann

Anbieter für „Grüne Hardware“ und faires Zubehör:

meditaxa Redaktion | Quellen: bundesärztekammer.de, bitkom.de, gematik.de, klimawandel-gesundheit.de

* Bitkom: Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche, dessen übergeordnete Ziele es sind, Deutschland zu einem führenden Digitalstandort zu machen, die digitale Transformation der deutschen Wirtschaft und Verwaltung voranzutreiben, digitale Souveränität zu stärken und eine breite gesellschaftliche Teilhabe an den digitalen Entwicklungen zu erreichen.
* Kreislaufwirtschaft: Modell der Produktion und des Verbrauchs, bei dem bestehende Materialien und Produkte so lange wie möglich geteilt, geleast, wiederverwendet, repariert, aufgearbeitet und recycelt werden. Auf diese Weise wird der Lebenszyklus der Produkte verlängert.
* Obsoleszenz: Ist in der Wirtschaft, besonders in der Industrie, das Veralten von Produkten – oder auch von Wissen – durch die begrenzte Haltbarkeit technischer Bauteile und den Wandel von Mode oder technischem Fortschritt.
*Open-Source-Software: Ihr Quelltext ist öffentlich und kann von Dritten eingesehen, geändert und unter Einhaltung der Lizenzbedingungen meist kostenlos genutzt werden.
*CMS: Content Management System – Redaktionssystem zur Erstellung von Websites.